Daseinsberechtigung

Comfort Zone

Ich habe in meinem letzten Beitrag geschrieben, dass ich angefangen habe Zeitung zu lesen. Und während ich in der Zeitung blättere, diese Artikel lese, gut recherchiert, sauber ausformuliert, fühle ich mich manchmal wieder wie ein kleines Kind, das etwas Verbotenes tut. Meine Eltern spät abends bei einem Gespräch belauschen, oder feinsäuberlich die Fotos in meinem Babyfoto Album beschriften, bevor ich schreiben konnte. Mit einem dicken, braunen Buntstift. Meine Mutter war genervt. 

Diese Texte, diese Nachrichten, sind die auch für jemanden wie mich geschrieben? Ich bin gerade noch dabei zu lernen, das Wort Feuilleton richtigauszusprechen. Ich schalte ab, wenn mich Dinge nicht interessieren. Wenn mir mein Vater zum x-ten Mal das Steuersystem erklärt zum Beispiel. Auch im Schauspiel habe ich manchmal das Gefühl, dass ich mich einfach nur so durchmogele. Keine Ausbildung, keine Technik. Wird schon reichen. Beim Nachsynchron muss ich dann zwei Stunden lang vernuschelte Sätze neu einsprechen, während meine sprachausgebildeten Kollegen sich weiterbilden und an online-Schauspielkursen teilnehmen. Regelmäßig beschleicht mich der Gedanke, dass ich eventuell, vielleicht, unter Umständen … faul bin?! Richtige Arbeit meide, weglaufe sobald es kompliziert oder intellektuell wird. In meiner Komfortzone bleibe?

Fear Zone

Ende 2014 stand ich vor der Entscheidung die Schule nach elfeinhalb Jahren abzubrechen. Mein Körper konnte nicht mehr, mein Kopf war voll. Burn-Out war die Diagnose. Und das mit 17. „Na na„, sagt meine innere Stimme, „Hast du dafür überhaupt schon genug erreicht? Ist das nicht was für Menschen mit Firmen und Konzernen und millionenschweren Aufträgen? “ Wie kann einen Durschummeln so erschöpfen?

Ein Satz, der mich wie ein Mantra durch diese Zeit begleitet hat, war Change it, leave it or accept it. Am Ende  musste ich auf mein Gefühl setzen. Eine Fähigkeit, die einem in der Schule nicht nur nicht beigebracht wird, nein, die einem aktiv abtrainiert wird. Ich konnte einfach nicht mehr Teil eines Systems sein, das so gegen meine Werte, und damit gegen meine psychische und physische Gesundheit geht. 

Und wenn mich Leute fragten warum ich die Schule abgebrochen habe, habe ich das auch so gesagt: „Weil ich dieses System nicht unterstützen möchte.“ Eventuell kam noch ein leise gemurmelter Satz über mein Burn-Out. Aber meine Angst vor dem Scheitern, habe ich selten mit anderen geteilt. Das schlechte Gewissen. Die Angst, einfach nicht gut genug zu sein, hat mich lange beschäftigt. Hätte ich es geschafft? Wieso schaffen es andere und ich nicht? Habe ich noch eine Daseinsberechtigung? Darf ich noch lernen? War es Angst, getarnt als Hochmut, die mich dazu gebracht hat, abzubrechen? Darf ich jetzt überhaupt noch mitspielen? 

Learning Zone

Beim Zeitung lesen muss ich beschämt feststellen, wie wenig ich weiß. Analog fehlt da der kleine blaue Strich unter dem Namen, und ich muss mir über Kontext zusammenreimen, über wen gerade geschrieben wird. Um was es gerade geht. Und dann wieder bin ich erstaunt, wie viel ich weiß. Warum? frage ich mich dann. Woher? Einfach aufgeschnappt, mitgenommen, abgespeichert?

Wenn ich in der Schule geblieben wäre, hätte ich vielleicht gewusst, dass Change it, leave it or accept it ein Zitat der Menschenrechtsaktivistin Maya Angelou ist. Ich hätte vielleicht einen Vortrag über sie gehalten, in Geschichte, oder Englisch oder Politik. Aber dann auch wieder … wahrscheinlich nicht.

Growth Zone

Ich weiß auch nicht mehr, wo ich das erste Mal das berühmte Zitat von Angelou gehört habe. Aber ich denke, das Wichtige ist, dass es mir genau zur richtigen Zeit wieder eingefallen ist. Das ich es in einen emotionalen Kontext setzen konnte und damit eine mutige Entscheidung getroffen habe. Und dass ich mir jetzt erlaube, trotzdem weiter zu lernen, und hoffe, dass das für die Welt ok ist. Das jemand mitspielen darf, obwohl sie sich nicht an die Regeln hält. Sie sogar verändern, verbessern möchte. Ich habe niemandem wehgetan, als ich aufgehört habe. Ich teile gerne meine Erfahrung. Ich lerne gerne dazu und ändere meine Meinung. 

I wrote about my experiences because I thought too many people tell young folks, ‚I never did anything wrong. Who, Moi? – never I. I have no skeletons in my closet. In fact, I have no closet.‘ They lie like that and then young people find themselves in situations and they think, ‚Damn I must be a pretty bad guy. My mom or dad never did anything wrong.‘ They can’t forgive themselves and go on with their lives. – Maya Angelou

Sie hat übrigens mit 17 Jahren die Schule abgeschlossen, im neunten Monat schwanger.