Du kannst nicht an denselben Ort zweimal
2014
Ich war Ende 2014 sehr erschöpft. Eine Erschöpfung, die nicht mit mehrmals gut ausschlafen oder drei Wochen Italienurlaub weggeht. Es war mehr ein permanenter Erschöpfungszustand, der, wenn sich mein Umfeld nicht ändern würde, sich auch nicht ändern würde. Es war klar, dass ich erstmal nicht mehr zur Schule gehen kann. Also schreibt mein Kinderarzt mich wegen Burnout für zwei Monate krank. Interessanterweise muss man in Deutschland als Minderjährige, dann eine begleitende Therapie machen.
Nach meinem therapeutischen Erstgespräch stellt ein netter Berliner Jugendpsychologe, die Diagnose „Depressive Phase“. Nun sitze ich also da, mit zwei Diagnosen und einem leeren Gefühl. Einfach keinen Bock mehr. Ich will nicht mehr. Lasst mich alle in Ruhe. So erschöpft, dass ich nichts mehr machen kann. Na gut, ich kann schlafen, in Cafés sitzen und Tagebuch schreiben, meinen Freunden beim Abi lernen zugucken und eben einmal die Woche mit dem Auto zu meinen Therapiesessions fahren.
Dass man mit 17 Jahren ein Burnout hat ist erstmal nichts Ungewöhnliches. Vor allem nicht, wenn man 12 Jahre davon mit Drehen und nebenbei zur Schule gehen verbracht hat. Dass man darauf als Reaktion ein Lasst-mich-alle-in-Ruhe Gedankenmuster entwickelt, ist auch erstmal nicht ungewöhnlich. Das war mehr oder weniger meine erste Therapiesitzung abgefrühstückt. „Du bist nicht mit einer Depression geboren, du wirst nicht damit sterben und sehr wahrscheinlich auch nicht daran (die Patientin äußert keine suizidalen Gedanken).“ Ich war einfach an einem merkwürdigen Ort gelandet.
Einem dunklen Ort in mir drin, der mich dazu bringt, Dinge zu sagen, die ich nicht meine, Dinge zu tun, die mir nicht gut tun. Ein Ort, an den ich leider immer wieder zurückkehren kann. Die Therapie dreht sich also um diese zwei Fragen: Wie werde ich wieder glücklich? Und wie muss ich nie wieder an diesen Ort zurück?
Das erste kam mit der Zeit. Zuerst habe ich mein Umfeld geändert. Hab die Schule, unter lauten Protestrufen meiner Tutoren abgebrochen. Habe merkwürdige Sachen wie Vergebungsrituale in meinem Zimmer gemacht, habe langsam aber sicher wieder angefangen, laut zu lachen. Die nächsten Jahre wurde ich immer glücklicher. Bin gereist, habe meditiert, getanzt, gedreht, auf mich aufgepasst, mit Menschen geredet. Neue Freunde und alte wiedergefunden. Nach ein paar Monaten war meine Therapie beendet. Warum auch nicht?! Mir ging es ja wieder gut. Aber die zweite Frage schlummerte noch in mir. Und damit auch die Angst, irgendwann zurück an den „dunklen Ort“ zu müssen. Und je „gesünder“ ich wurde, desto größer wurde die Angst. Denn auf einmal hatte ich wieder etwas zu verlieren. Rock Bottom ist so schön einfach.
Immer immer wieder … was ist, wenn es nochmal passiert? Vor allem wenn man das Ego mitreden lässt. Das versucht nämlich mit aller Kraft dich in deiner Komfortzone zu lassen. Gefahr? Na gut dann geh ich eben zurück in die Depression. Wie bitte? Gesunde Verhaltensmuster entwickeln, Stress und Erschöpfung frühzeitig wahrnehmen und helfende Schritte einleiten? Das würde ja bedeuten, sein Verhaltensweisen zu ändern … Das Leben navigieren und frühzeitig abbremsen? Fahr das Auto einfach gegen die Wand, dann stoppt es auch. In gewisser Weise bin ich einfach davor weggerannt. „Wenn ich so glücklich bin, kannst du mich gar nicht einholen. Wenn ich nicht hingucke, kann es auch nicht wehtun.“ Klingt erschöpfend? Ist es auch.
Exactly what you run from, you end up chasing – Tyler, The Creator
2019
Und dann ist es endlich passiert und ich war wieder da. Im Alten, im Vertrauten. In der Sinnlosigkeit, in dem Aufgeben. Ich habe nicht auf mein Bauchgefühl gehört. Habe zu viel gearbeitet, zu wenig Pausen eingelegt, habe mich in unangenehme Situationen gebracht und vor allem habe ich mir keine Zeit zum Verarbeiten gelassen. Da waren sie wieder, die Gedanken. Lasst mich alle in Ruhe. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Diesen Zustand kenn ich doch. Wie ein Zimmer, das ein bisschen eingestaubt ist, aber die Teetasse steht noch genau da, wo man sie zurück gelassen hat. Da sitze ich also vor genau einem Jahr im Café, mit meinem Tagebuch. Here we go again.
Nur eins war ein bisschen anders.
Ich.
Ich merke wie ein Lichtspalt in den dunklen Ort fällt. Ist das Hoffnung? Selbstvertrauen? Liebe?
Sind die letzten fünf Jahre und alles, was ich in der Zeit gelernt habe, also doch nicht spurlos an mir vorbei gegangen? Wieso kann ich noch atmen? Wird das ganze Meditieren und Yoga am Ende so in mein Unterbewusstsein vorgedrungen sein, dass ich selbst hier, im luftleeren Raum, in dem mir doch sonst sofort der Atem ausgegangen ist, lange tiefe Atemzüge nehme?
Und auf einmal nehme ich die Musik wahr, die im Hintergrund läuft. Ich bekomme Gänsehaut, weiß nicht genau warum, den Song kenn ich nicht. Ich google die drei Wörter, die ich aufschnappe mit „Song“ dahinter. Es öffnet sich der Songtext zu „Vienna“ von Billy Joel.
Slow down, you crazy child
You’re so ambitious for a juvenile
But then if you’re so smart, then tell me
Why are you still so afraid? Where’s the fire, what’s the hurry about?
You’d better cool it off before you burn it out
You’ve got so much to do
And only so many hours in a day
Needles to say I did shed some tears. Denn in dem Moment wird mir klar, ich kann gar nicht an denselben Ort zweimal. Denn ich bin der Ort und ich bin nicht derselbe Mensch. Das Ego wird zwar versuchen, es so aussehen zu lassen. Aber schau dich um. Schau dich an. Dein Umfeld hat sich verändert, du hast dich verändert (alle sagen das).
An dem Tag ist by the way Flowin‘ and Growin‘ geboren.
Wenn man anfängt den „Ort“ in Verhaltensweisen aufzubrechen, Angewohnheiten und Gedankenmuster, dann wird es greifbarer. Das Mysterium wird aufgedeckt. Ich weiß, das ist schwer, wenn es so heftig auf dich einbricht, dich runterdrückt. Und es ist in Ordnung zurückzurutschen. Wahrscheinlich musste für mich genau das passieren, wovor ich so Schiss hatte, um zu lernen, dass es nicht so schlimm ist. Stop Running.
Seitdem war ich ein paar mal wieder an dem „Ort“, das letzte Mal im August. Es ist immer noch sehr kraftvoll, aber mein Vertrauen, dass ich wieder rauskomme, wird mit jedem Mal größer. Und langsam kommt sogar eine gewisse Dankbarkeit dafür dazu. Ich habe diesen Ort, diese Verhaltensmuster kreiert, um mich zu schützen. Sie haben mir in der Vergangenheit geholfen. Bis sie es nicht mehr tun. Heilung dauert lange und der Prozess kann sehr, sehr schleichend sein. So schleichend, dass man meinen könnte, dass nichts passiert. Aber habe keine Angst vor dem „Rückfall“. Du wirst jedesmal stärker. Sieh es als Chance, alles, was du in der Theorie gelernt hast, zu testen. Am Ende sind wir alle hier um zu lernen.